Selbstorganisierung als Solidarität am Beispiel des Zentrums „Notara 26“

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Was genau ist das Zentrum „Notara 26“? In welchen anderen Bereichen gibt es aktuell aktive selbstverwaltende Initiativen in Griechenland? Welche politischen und sozialen Herausforderungen entstehen aus diesen Initiativen? Diese Themen wurden von unserer Gruppe „Antilogos NRW“ im Rahmen einer offenen Diskussionsrunde, die von der Gruppe „Resist“ in Saarbrücken organisiert wurde, eroertert.

Anlässlich der Aufräumungen von drei Besetzungen in Thessaloniki im Juli 2016 und der Brandangriff der Notara Besetzung am 24. August 2016 wird das Thema höchstaktuell.


Selbstorganisierung in Griechenland

Die letzten Jahre haben wir viele dynamische politische Bewegungen in Griechenland erlebt, die viele unterschiedliche Bereiche des sozialen Lebens betreffen. Verursacht oder verstärkt durch die Wirtschaftskrise und die Austeritätspolitik, inspiriert durch die „Bewegung der Empörten“ in 2011, verbreiteten und entwickelten sich in der Gesellschaft in unterschiedlichen Weisen.

Viele Initiativen waren ungehorsam gegenüber Mandaten des staatlichen Systems oder der Troika. Sie druckten einen Versuch aus, den öffentlichen Raum zurückzugewinnen oder neu zu definieren, das eigene Leben durch Partizipation zu gestalten. Diese Initiativen umgehen eigentlich den Staat. Sie erscheinen, wenn der Staat und das herrschende System die Bedürfnisse der Gesellschaft nicht decken und sind dem vorgeschriebenen staatlichen Rahmen entgegengesetzt.

Ein paar Beispiele wollen wir demnächst kurz darstellen: die sozialen Praxen, Netzwerke und Kooperativen im Rahmen der Sozialen und Solidarischen Ökonomie, Bürgerinitiativen und -Bewegungen sowie Besetzungen.


Soziale Praxen

Das Gesundheitssystem Griechenlands war nicht perfekt, dennoch hatte im Allgemeinen jeder den Zugang ins System, durch gerechten oder ungerechten Wegen, gesichert. Seit 2008 stieg die Anzahl der Bürger ohne Gesundheitsversicherung. Arbeitslose, die länger als zwei Jahren keine Beschäftigung haben, werden vom Nationalen Gesundheitssystem ausgeschlossen. Die Anzahl der unversicherten Bürger in Griechenland stieg 2013 auf 3.000.000. Versuche von Seite der Regierungen, das Problem zu bewältigen, scheiterten. Entweder umfassten sie wenige der Betroffenen oder schwächten das Gesundheitssystem, sie führten z.B. zu Unterbesetzung oder Kürzung der notwendigen Mittel. Die Eigenbeteiligung der Patienten blieb in vielen Fällen immer noch hoch, sodass oft weder unversicherte noch versicherte die Kosten für Medikamente, diagnostische Untersuchungen oder Therapien tragen konnten. Personen sind gestorben aufgrund mangelnden Zugangs an die notwendigen Strukturen. Die öffentlichen staatlichen Ausgaben im Bereich der Gesundheit und der Vorsorge werden, wie im Rahmen der Memoranden entschieden, nur noch gekürzt, und dadurch bleibt fragwürdig, in wie fern das Problem bewältigt werden kann.

In dieser Konstellation entstanden viele soziale Praxen (127), soziale Apotheken (122) oder andere Strukturen, die durch die Aktivierung von Freiwilligen Ärzten, Apotheker, Krankenpfleger und oft die Unterstützung der Kirche, der Gemeinden oder anderen Solidaritätsnetzwerke, zur Milderung des Problems beitragen. Sie behandeln Unversicherten, Arbeitslosen, Bedürftigen und Menschen in Not, z.B. Flüchtende, und nehmen keine Zahlung. Sie bieten Medikamente und andere medizinische Bedarfsartikel, oft durch Kooperation mit sozialen Apotheken oder durch Spenden. Externe Laboren, die umsonst diagnostische Untersuchungen durchführen, unterstützen die Praxen, die nicht immer über die notwendige Ausstattung verfügen. Manche Krankenhäuser (13) behandeln mittlerweile auch unversicherte Patienten.

Zwei Praxen, die zu den ersten Soziale Praxen zählen, sind die Weltstädtische Soziale Praxis in Helleniko und die Soziale Praxis der Solidarität von Thessaloniki. Beide bieten unversicherten Patienten primäre medizinische und medikamentöse Betreuung ungeachtet von Nationalität, Konfession, Geschlecht, Sexualpräferenz oder Alter. Nicht nur wollen diese Initiativen Lücken des Gesundheitssystems abdecken, sondern auch solidarisch und selbstverwaltend, den Kampf gegen ihren Ursachen hervorheben und stärken, für ein allgemeines, kostenloses und nationales Gesundheitssystem. Für die Gesundheit als soziales Gut und Grundrecht.

Die Weltstädtische Soziale Praxis in Helleniko entstand in 2011 und wird mit Unterstützung der Gemeinde von Helliniko-Argyroupolis im Gelände des alten Flughafens von Athen untergebracht. Betriebsausgaben werden auch von der Gemeinde übernommen. Sonst werden keine Geldspenden akzeptiert, damit die Unabhängigkeit und Selbstbestimmung gewährleistet wird. Die Mitglieder der Praxis, alle auf ehrenamtlicher Basis, sind die einzigen Förderer der Initiative. Entscheidungen werden kollektiv, direkt und transparent durch die Gesamtversammlung getroffen. Keine Parteien dürfen die Funktion und die Aktivitäten der Praxis beeinflussen. Werbung für Spenden ist ausgeschlossen.

Die Soziale Praxis der Solidarität von Thessaloniki ist ein soziales Kollektiv der Gesundheitspflege, autonom und selbstverwaltend. Sie wird in einem Gebäude im Zentrum der Stadt untergebracht, das ihr vom „Arbeitszentrum Thessaloniki“ überlassen wurde. Für die Ausstattung der Praxis wurden Spenden von Mitbürgern benutzt, sowie Spenden nicht verwendeter Geräte von Krankenhäusern. Medikamente lassen sich von Apotheken sammeln oder Mitbürgern spenden, weil z.B. ihre Medikation geändert wurde oder weil der Patient gestorben war etc.. Kardiologen, HNO-Ärzte und Dermatologen, Psychologen, Hebammen, Physiotherapeuten und andere engagieren sich ehrenamtlich für die Soziale Praxis. Mikrobiologen durchführen wichtige Laboruntersuchungen kostenlos im privaten Labor. Die soziale Praxis bleibt unabhängig vom Staat, von der EU, von der Kirche, von politischen Parteien und vom Markt. Sie bekommt Geld und Spenden nur von Individuen, sozialen Kollektiven, Gewerkschaften, macht keine Werbung und hat keinen offiziellen Spender.

Mehr kann mehr auf die Seiten der Praxen lesen: http://www.kiathess.gr/de/, http://www.mkiellinikou.org/en/.


Solidarische, Kooperative Ökonomie und Netzwerke

Neue Arbeitsformen, Netzwerke und Handelswege sind für viele Leute in mehreren Bereichen eine Alternative in den Jahren der Wirtschaftskrise (und oft sogar davor) gewesen. Besetzte Arbeitsräume, bei denen die Arbeitsnehmer z.B. nach Bankrott des Unternehmens, die Produktionsmittel besetzen, produzieren doch weiter. Als Beispiele können wir unter anderem BIOME und Robin des Holzes (sekundäre Produktion), EfSyn und ertopen (Medien), das Plaza Hotel (von Arbeitern besetzt, jetzt unterbringt Flüchtende) und das EMPROS Theater (altes, verlassenes Theater besetzt) erwähnen. Jeder Fall hat sich anders entwickelt und unterschiedliche Handlungswege wurden gewählt, sodass es schwer fällt, eine Zusammenfassung zu wagen. Gekennzeichnet wurden sie alle durch basisdemokratische Entscheidungsprozesse, Gleichstellung und –Berechtigung aller bei Entscheidungen und Pflichten. Das Modell der abhängigen Lohnarbeit wird dadurch abgeschafft und Mitbestimmung, Mitgestaltung, Selbstorganisierung bieten eine andere Perspektive zur beruflichen Realität an.

Das Beispiel von BIOME (Biomichaniki Metalleftiki – Βιομηχανική Μεταλλευτική) wollen wir hier ausführlicher darstellen. Die ehemalige Fabrik für Industriekleber und Baumaterialien wurde im Mai 2011 von ihren Eigentümer mit Schulden an ihre Arbeiter verlassen und im Juli des gleichen Jahres von einem Teil ihrer Arbeiter besetzt. Seit 2013 werden in BIOME Reinigungsmittel produziert, eine notwendige Anpassung der Produktion aufgrund der hohen Kosten für Rohstoffe bei der Produktion von Kleber und Baumaterialien.

Die Entscheidungen werden kollektiv getroffen, in Versammlungen aller Arbeitenden (zurzeit 22 Personen), unter Gleichheitsbedingungen aller Teilnehmenden. Es gehört zu den Pflichten der Mitglieder in jede Versammlung teilzunehmen und die Entscheidungen anzuerkennen. Es geht dabei, wie die Arbeiter selbst betonen, nicht nur um die Selbstbestimmung der Produktion sondern auch der Beziehungen und der Umgangsweise im Arbeitsraum und in der Gesellschaft. Natürliche, umweltfreundliche Produkte, soziale Preise der Waren, direkter Zugang zum Konsumenten (keine Zwischenhändler), umweltfreundliche Warentransport (Fahrrad-Courier) sind ein paar der Aspekte, die die Produktion von BIOME charakterisieren. Diese Umstellung der Arbeitsweise war nicht leicht, wie selbst die Arbeiter erzählen: „Alles „entlernen“, was man während des ganzen Lebens gelernt hat, fällt allen schwer“.

Die Herausforderungen sind für BIOME noch groß. Der stehende Verkauf des Landstucks vom ehemaligen Besitzer bedroht die Zukunft des ganzen Projektes. Es wird versucht, die BIOME Anlage vom Verkauf auszuschließen. Trotzdem produziert BIOME weiter, bereits wurde ein Online-Shop gegründet, und bleibt in allen sozialen Bewegungen aktiv. Mehr kann man auf der Webseite von BIOME lesen (http://biom-metal.blogspot.de/).

Darüber hinaus zählt man mit vielen Integralen Kooperativen, Kollektiven und Genossenschaften, die in einem Konzept operieren, das den Mehrwert auf die sozialen Vorteile statt auf Gewinn erkennt. Prinzipien wie Partizipation, Kollektivität, Vertrauen, Teilen, faire Arbeitsbedingungen, gleicher Zugang aller zu sozialen Güter, Zusammenarbeit statt Wettbewerb werden besonders hervorgehoben (Soziale und Solidarische Ökonomie – Κοινωνική και αλληλέγγυα Οικονομία). Kooperativen, wie z.B. die Bios Coop (Sozialer Verbraucher Genossenschaft), die Athens Coop (Integrale Kooperative Athen), Kollektive Cafés/Restaurants, To Peliti (Aktion für Erhalt und Verbreitung traditioneller Sorten) u.a., Netzwerke, wie z.B. die Bewegung136 (Bewegung zur „Privatisierung“ des Wasserversorgungs- und Abwassernetzwerks von Thessaloniki EYATH durch ihre Bürger), PROS.KA.LO (Initiative und Zusammenarbeit für Soziale Solidarische Ökonomie) u.a., sowie alternative, lokale Währungen, Tauschbörsen, Zeitbanken, arbeiten hin zur Formation integraler Systemen, die alle Güter und Dienstleistungen umfassen werden. In diesen Systemen werden die oben erwähnten Prinzipien dominant und eine faire Technologieverwendung in vernünftigen Maßen gefordert. Im Juni 2016 hat sogar ein griechenlandweites Treffen von Unternehmungen Sozialer Solidarischer Ökonomie stattgefunden (http://ssecoops.blogspot.de/).


Bürgerinitiativen und –Bewegungen

Viele Beispiele politischen Ungehorsams und Reaktionen auf Maßnahmen und Establishments kann man erwähnen:

·       Solidaritätsbewegungen und Netzwerke für betroffenen der Krise konnten Effekte der Krise mildern.

·       Initiativen gegen Eigentumssteuer, Stromsperrungen, Autobahngebühren oder Hilfe bei anderen Zahlungen.

·       Bewegungen „ohne Zwischenhändler“, für gerechte Preise für Verbraucher und Bauer.

·       In einem Versuch, öffentlichen Raum zu schaffen, wurden Parken und Gebäude besetzt.

·       Auch Solidaritätsbewegungen für Flüchtende haben sich über die letzten zwei Jahre vermehrt.

Ein Beispiel für den letzten Fall ist das Zentrum Notara26. Im September 2015 haben einige GenossInnen das leere Gebäude auf die Straße Notara 26 im Stadtviertel von Exarchia besetzt. Das Gebäude gehörte dem Ministerium für Arbeit und Sozialversicherung. Diese Aktion der Antiautoritären und Antikapitalisten in Athen war eine Reaktion auf die ständig zunehmenden Fluchtwellen nach Griechenland und die zahlreiche Präsenz von Flüchtenden in Athen, die in schlechten Konditionen untergebracht wurden. Ziel des Zentrums ist kurzfristige Aufenthalt von Flüchtenden in guten Konditionen anzubieten, sowie die Befriedigung anderer Bedürfnisse (z.B. Essen, Kleidung, ärztliche Versorgung und psychologische Unterstützung).

Die Beteiligten dieses Versuchs sind Personen aus verschiedenen antiautoritären und antikapitalistischen Gruppen, solidarische Personen und vor allem die Nachbarn. Solidarische Arbeit wird von ungefähr 40-50 Personen, die ständig da sind, geleistet. Dazu helfen dem Zentrum sieben Mediziner, zwei Krankenschwester, Sozialarbeiter und Dolmetscher. Alle Entscheidungen werden vom Plenum getroffen, das zweimal pro Woche zusammenkommt. Im Plenum dürfen sich die Unterstützer des Zentrums und die Flüchtenden beteiligen. Die meisten Besucher des Zentrums kommen aus Afghanistan, dem Iran, Marokko und Syrien.

Die Räumlichkeiten des Zentrums umfassen ein großes Wohnzimmer- Foyer, wo das Plenum auch stattfindet, einen Raum mit Waschmaschinen, zwei große Keller mit Kleidung und anderem Material (Essen, Waren für hygienische oder medizinische Zwecke), Schlafzimmer, Badezimmer, Kinderzimmer und eine Küche, wo allerdings nicht gekocht wird. Das Essen wird von anderen Gruppen in Exarchia oder von den Nachbarn organisiert. Das Notara-Zentrum ist kein Hotel. Die Reinigung der Räume wird von Unterstützer und Flüchtende gemacht. Jeden Abend findet eine Auszählung statt und am Eingang des Gebäudes steht immer jemand zur An- und Abmeldung der Übernachtenden. Es gibt eine Übernachtungsfrist, die eine Woche betrifft.

Spenden von Klamotten, Medikamenten, Bedarfsartikel und anderen Waren für den Haushalt werden gemacht. Finanzielle Unterstützung akzeptiert das Zentrum in Form von Bons. Aber was das Notara-Zentrum zurzeit braucht ist Unterstützung. Zum einen solidarische Arbeit im Zentrum und zum anderen Unterstützung von der Gesellschaft. Der Brandstift vom 24.8 beweist, dass es Gegner des Projekts gibt, die Gewalt verwenden. Die rechtsextreme Gruppe „Μοναχόλυκοι Ριζοσπαστικού Αυτόνομου Μαχητικού Εθνικοσοσιαλισμού“ (Mönche-Wölfe des radikalen, autonomen Nationalsozialismus) hat die Verantwortung des Angriffs übernommen. Mehr über das Zentrum kann man auf dem Blog oder der Facebook Seite der Gruppe lesen.

Die Versuche dieser Initiativen werden durch die heutigen Zustände erschwert. In einem weiteren Beitrag werden wir Herausforderungen der heutigen Bewegungen analysieren. Antilogos ist mit allen selbstverwaltenden Initiativen solidarisch.

Internet Quellen Eine ausfürliche Auflistung solidarischer und sozialer Gruppen und Netzwerke kann man in www.enallaktikos.gr finden. Alle erwähnte Initiativen verfügen über eigene Internetseiten.

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